Die Heide ist frei!

Für viele Ortsansässige ist es ein später Triumph. Über 40 Jahre, von 1952 bis 1993, hatten sowjetische Truppen auf dem insgesamt 12.000 Hektar großen Gelände das Kriegführen mit scharfen Waffen geübt. Panzerketten pflügten damals durch den märkischen Sand, Kampfjets donnerten im Tiefflug über das Gelände, sodass in den Häusern der umliegenden Dörfer die Gläser im Schrank klirrten, wie Zeitzeugen berichten. Millionen Bomben prasselten auf die Heide, darunter auch Streumunition, die
heute international geächtet ist.

Jetzt ist die Heide wirklich frei – jedenfalls auf einem knapp 1000 Hektar großen Areal, das sich wie ein Hufeisen um das südliche Ende des ehemaligen Truppenübungsplatzes Wittstock legt. Anfang 2023 wurden entlang der Sandwege über hundert Verbotsschilder und ein gutes Dutzend Schranken abgebaut. Die Fläche gilt als restlos von Munition befreit. Besucherinnen und Besucher dürfen sich hier erstmals ungehindert durch die Wald- und Heidelandschaft bewegen, auch abseits der Wege.

Teile des ehemaligen Militärgeländes gehören heute zum Naturpark, etwa 4000 Hektar werden von der Heinz Sielmann Stiftung gepflegt. Wo früher Bomben fielen, ist eine der letzten großen Heidelandschaften Europas entstanden, ein Rückzugsort für seltene Tiere und Pflanzen. Aber nicht nur das, die Kyritz-Ruppiner Heide ist auch ein echter Geheimtipp – sogar zur Heideblüte im Hochsommer kann es passieren, dass man die Freiheit ganz allein genießen kann.

Wo der Wiedehopf wohnt

Ab Rägelin geht es über einen Panzerplattenweg, der so pockennarbig ist, dass mein Lenker flattert. Kurz hinter dem Dorf liegt der Eingang zum Naturpark, an der Schutzhütte vor dem Parkplatz schließe ich mein Fahrrad an. Auf dem Wegweiser am Tor thront ein aus Metall gesägter Wiedehopf, das Logotier der Kyritz-Ruppiner Heide: Ein Vogel, der so selten ist, dass er auf der Roten Liste steht. Seit 2021 nisten wieder einige Paare im Park.

Nach 500 Metern öffnet sich der Kiefernwald und der Heideteppich liegt mir zu Füßen, dicht und wollig, dazwischen weiches Moos – ich kann nicht widerstehen: Ich lege mich auf den Rücken und breite die Arme aus. Es summt und brummt so intensiv in meinen Ohren, dass ichnach einer Drohne Ausschau halte. Großstadtsozialisation. Doch nichts zu sehen, nur Wildbienen schwirren durch die Luft. Es dauert, bis ich in der Natur angekommen bin. Die Farben um mich herum erinnern an die Provence und meine Nase foppt mich mit dem Duft von Lavendel. Tatsächlich riecht das Kraut der Besenheide viel dezenter, sogar wenn es in voller Blüte steht.

Bis zum Heinz-Sielmann-Hügel ist es nicht mehr weit. Ich steige auf den schlank taillierten Turm, der mit Lärchenholz verkleidet ist, und habe freien Blick aus 20 Meter Höhe. Im Westen Richtung Rossow drehen sich ein paar Windräder träge am Himmel, mehr gibt der Horizont nicht her, nur Heide, Kiefernwäldchen und vereinzelt Birken. Schnurgerade Sandwege ziehen sich wie Lebensadern durch das topfebene Feld. Von unten höre ich Stimmen und suche das Gelände ab, bis ich weit entfernt zwei Wanderer entdecke. Es ist so still hier oben, dass jedes Geräusch hunderte Meter weit getragen wird.

Genügsame Tiere und Pflanzen

Wieder unten angekommen, folge ich dem Wegweiser nach Neuglienicke. 12 Schautafeln soll es entlang des Heide-Erlebnisweges geben, einige davon schaue ich mir an. So erfahre ich zum Beispiel, dass der Ginster, der hier ab Mai blüht, zwar schön anzusehen, aber pures Gift für die Heide ist, weil er den Boden mit Nährstoffen anreichert und das Heidekraut verdrängt. Eine andere Tafel stellt die Rote Röhrenspinne vor, eine wahre Nachhaltigkeitskünstlerin. Wenn ihre Jungtiere fast ausgewachsen sind, verwandelt sie sich selbst in Nahrungsbrei und stirbt.

Überraschend, wie vielen Pflanzen und Tieren die karge, knochentrockene Landschaft einen Lebensraum bietet, der ironischerweise erst durch die jahrzehntelange militärische Nutzung geformt wurde. Denn wo schwere Kettenfahrzeuge regelmäßig den Boden aufgerissen und verdichtet haben, konnten sich keine Büsche und Bäume ansiedeln. Stattdessen entstanden ausgedehnte Magerrasen- und Heideflächen. Damit sich die Natur diese Flächen nicht zurückerobert, werden Jahr für Jahr einige Hektar Heidefläche kontrolliert abgebrannt – andernfalls würde aus der Heide wieder Wald.

Die Sonne steht inzwischen hoch am Himmel und es wird drückend heiß. Meine Wanderschuhe sinken tief in den feinen Sand, bei jedem Schritt stieben braungraue Sandschrecken in alle Richtungen. Seit dem Aussichtsturm ist mir kein Mensch begegnet. Ich bin froh, dass ich zwei Liter Wasser im Rucksack mit mir schleppe. Schatten gibt es kaum, bis auf ein paar überdachte Rastplätze aus verwittertem Holz.

An der Steinschmätzer-Hütte kurz vor Neuglienicke kehre ich um und wandere etwas weiter nördlich auf einem Parallelweg zurück, der mich näher an die Verbotszone führt. Am Waldrand stehen große weiße Schilder: »Lebensgefahr! Kampfmittel! Betreten und Befahren verboten« – so sah es hier früher wohl überall aus.

Hinter mir höre ich ein leises Fluchen. Zwei Radler, verschwitzt und mit hochroten Köpfen, den Blick starr auf den Weg gerichtet, müssen sich sichtlich anstrengen, ihre Gravel Bikes auf dem sandigen Untergrund in der Spur zu halten. Sie grüßen freundlich, sind aber für einen Stopp nicht zu haben.

Zurück auf dem Sielmann-Hügel hat sich eine fünfköpfige Familie auf dem Picknickplatz eingerichtet, um von hier aus den Sonnenuntergang zu beobachten. Ich bin ein bisschen neidisch, aber wenn ich meinen Zug erreichen will, muss ich mich jetzt wirklich sputen. Beim nächsten Mal werde ich länger bleiben, dann ist die Kyritz-Ruppiner Heide vielleichtschon offiziell ein Sternenpark. Den Nachthimmel über der Heide bestaunen, das geht natürlich auch heute schon.

Hin und weg: Günstigste Verbindung mit dem RE 6 (3614) nach Netzeband, weiter rund 6 Kilometer mit dem Fahrrad zum Eingang Pfalzheim (Dauer: 2 bis 2,5 h). Etwas komplizierter ist die Anreise nach Rossow oder Neuglienicke.

Strecke: Wanderung auf dem Heide-Erlebnisweg von Pfalzheim nach Neuglienicke durch eine der größten Heideflächen Europas, die Kyritz-Ruppiner Heide. Besonders im Spätsommer, wenn die Besenheide blüht, verwandelt sich der einstige Truppenübungsplatz in ein lila Blütenmeer. Einstieg ab Rossow, Pfalzheim oder Neuglienicke.

Tour auf Google Maps

Bonustipp: Die Kyritz-Ruppiner Heide gehört nachts zu den dunkelsten Orten Deutschlands, deshalb
lässt sich hier der Sternenhimmel besonders gut beobachten, vor allem im August, auf dem Höhepunkt des Perseidenstroms können sich bis zu 50 Sternschnuppen pro Stunde am Himmel zeigen.

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